Kann man Kreuzottern umsiedeln?

Feb 14, 2018 by     Posted under: Geförderte Projekte 2016

Originaltitel:

Kann man Kreuzottern (Vipera berus) umsiedeln? Eine radiotelemetrische Untersuchung des Verhaltens vor, während und nach einer Umsiedlung

Ein wichtiges Ziel des Natur- und Artenschutzes ist es, die Lebensräume gefährdeter Arten vor Verlust an Quantität und Qualität zu schützen und sie durch angepasste Pflege in ihrem Wert zu erhalten. Oft ist dieses Schutzziel nicht erreichbar, und der Verlust eines Lebensraums lässt sich nicht verhindern. Manchmal werden Lebensräume auch nur temporär während Bauarbeiten beeinträchtigt und im Anschluss so gut wie möglich wiederhergestellt. In beiden Fällen ist es notwendig, sinnvoll oder durch das Artenschutzrecht vorgeschrieben, dass die Individuen der gefährdeten Arten gefangen und umgesiedelt werden müssen (beispielsweise KYEK et al. 2007; LAUFER 2014). Diese Maßnahme schützt die Individuen vor der Tötung während der Lebensraumzerstörung, aber es ist oft unklar, wie sich die Individuen nach der Umsiedlung verhalten, ob sie im neuen Lebensraum überleben, und ob sich dort lebensfähige Populationen entwickeln können. Deshalb wird das Thema in der Fachliteratur intensiv und kontrovers diskutiert (GERMANO et al. 2015, SULLIVAN et al. 2015). Oft ist eine der Schlussfolgerungen der Studien, dass Umsiedlungen durch ein Monitoring begleitet werden müssen, sodass man beurteilen kann, ob die Umsiedlung erfolgreich war; dies nicht zuletzt auch deshalb, um zukünftige Projekte verbessern zu können (LAUFER 2014; GERMANO et al. 2015).
Die Kreuzotter hat zwar ein sehr großes Verbreitungsgebiet (SAINT GIRONS 1980), ist aber dennoch in vielen Ländern gefährdet (Deutschland: EN; Schweiz: EN; Frankreich: VU; MONNEY & MEYER 2005; HAUPT et al. 2009; UICN FRANCE, MNHN & SHF 2015) – so wie etliche andere Reptilien in vielen anderen Ländern auch (GIBBONS et al. 2000; READING et al. 2010; BÖHM et al. 2013). Ein Schwerpunkt der Verbreitung der Kreuzotter in der Schweiz ist das Engadin im Kanton Graubünden. Hier ist sie noch recht häufig (MEYER & MONNEY 2004). Ausgerechnet hier gibt es einen Fall, in dem ein Lebensraum nicht geschützt werden kann. Der Grund ist ein großes Naturschutzprojekt: Die Revitalisierung der Auen des Inn bei Bever. Im Zuge der Revitalisierung werden die Hochwasserschutzdämme des Inn entfernt, die in den 1960er-Jahren nach schweren Überschwemmungen gebaut wurden. Durch die Revitalisierung wird die Fließgewässerdynamik in der Aue, die als von nationaler Bedeutung gilt, möglichst wiederhergestellt. Gerade diese Dämme bieten aber in ihrem jetzigen Zustand der Kreuzotter einen idealen Lebensraum. Einer von uns (JC) begleitet dieses Projekt seit Jahren und konnte bereits bewirken, dass das Projekt aus Sicht des Reptilienschutzes verbessert wurde. Die Entfernung der Inn-Dämme ist aber unvermeidlich. Wenn die Dämme entfernt werden, wird es notwendig sein, möglichst viele Kreuzottern einzufangen und in geeignete Lebensräume u. a. an der Talflanke umzusiedeln. Es ist aber noch wenig bekannt, wie Kreuzottern auf eine solche Umsiedlung reagieren. Bei dieser Population, deren Lebensraum sowieso nicht erhalten werden kann, setzt unser Projekt an: Wir wollen die Zeit bis zur Entfernung der Dämme im Zeitraum von 2017–2018 nutzen, möglichst viel über die Lebensweise der Kreuzottern und deren Reaktion auf Umsiedlung zu lernen. Wir haben bereits 2015 mit der Maturaarbeit von Sara Salis mit einer Fang-Wiederfang-Studie an dieser Population begonnen. Konkret wollen wir untersuchen, wie Kreuzottern auf Umsiedlung reagieren: Bleiben sie am neuen Ort, oder versuchen sie, an den alten Ort zurückzukehren? Wie nutzt die Kreuzotter ihren Lebensraum? Welche Elemente sind wichtig?

Das Projekt hat zwei Teile. Der erste Teil ist eine radiotelemetrische Untersuchung, mit der wir die Nutzung des Lebensraums und die Reaktion auf die Umsiedlung beschreiben. Wir werden möglichst viele Kreuzottern fangen und besendern. Alle Tiere werden dann während eines Monats radiotelemetrisch verfolgt (mindestens eine Lokalisierung pro Tag). Nach einem Monat werden die Tiere dann zufällig in drei Gruppen unterteilt, sodass wir die Reaktion auf die Umsiedlung experimentell untersuchen können. Jede Gruppe wird gleich viele Männchen und Weibchen umfassen. Gruppe 1 dient als Kontrolle. Bei dieser Gruppe wird die Telemetrie ganz normal während eines Monats weitergeführt. Auch Gruppe 2 dient in einem gewissen Sinn als Kontrolle. Diese Tiere werden umgesiedelt; sie werden einen Kilometer flussabwärts gebracht und dort freigelassen. Wir gehen aufgrund unserer Langzeitbeobachtungen an den Kreuzottern am Inn bei Bever (JC beobachtet die Population seit neun Jahren) davon aus, dass die Tiere solche Distanzen auch im Rahmen ihres natürlichen Jahreszyklus’ zurücklegen. Die Individuen der Gruppe 3 werden an die Talflanke umgesiedelt. Die Talflanke ist etwa auch einen Kilometer vom Inn entfernt. Diese Tiere werden also aus ihrem natürlichen Lebensraum heraus in einen anderen geeigneten Lebensraum versetzt. Wir gehen davon aus, dass an den Inn-Dämmen lebende Kreuzottern natürlicherweise nicht an den Talflanken leben (als Teil des Jahreslebensraums). Diese experimentelle Anordnung erlaubt uns mehrere Auswertungen. Zuerst können wir die Lebensraumnutzung der Kreuzottern untersuchen. Dies erfolgt über sogenannte „resource selection functions“ mit einem „use/available“-Design. Wir beschreiben dazu jeden Fundpunkt („use“) einer Kreuzotter (Substrat, Exposition, Hangneigung, Vegetation, usw.). Dazu wählen wir einen Zufallspunkt, den wir gleich beschreiben. Der Zufallspunkt wird gewählt, indem wir eine Himmelsrichtung und Distanz (10 m) zufällig wählen („available“). Der Vergleich von Fundpunkten und Zufallspunkten erlaubt es uns dann, die Lebensraumnutzung zu beschreiben (als Beispiel siehe unsere frühere Arbeit an den Erd- und Wechselkröten am Tagliamento in Italien, die wir in „Ecology und Ecological Applications“ publiziert und in der „Zeitschrift für Feldherpetologie“ zusammengefasst haben: INDERMAUR et al. 2009, INDERMAUR & SCHMIDT 2011, SCHMIDT& INDERMAUR 2014). Wir können aber durch den Vergleich der drei Gruppen (keine Manipulation, Umsiedlung innerhalb des bekannten Lebensraums, Umsiedlung in unbekannten Lebensraum) gut beschreiben, wie die Kreuzottern auf Umsiedlung reagieren. Durch das zeitliche Design (zuerst ein Monat Telemetrie mit normalem, ungestörten Verhalten, dann Umsiedlung) kennen wir auch die „Charaktere“ der Individuen: Sind das Tiere, die eher sesshaft sind oder solche, die viel umherwandern?
Im zweiten Teil setzen wir die Fang-Wiederfang-Studie, die 2015 begann, fort. Dazu werden wir so viele Kreuzottern wie möglich fangen und mit Mikrochips markieren (wenn sie länger als 35 cm sind; kleinere Tiere werden mit einem Foto der Kopfoberseite „markiert“). Die Fang-Wiederfang-Daten werden es uns erlauben, die Populationsgröße zu schätzen. Ausserdem erlaubt die Fang-Wiederfang-Studie auch Aussagen zum Raumnutzungsverhalten der Tiere. Durch die Fang-Wiederfang-Studie können wir beschreiben, wie nicht telemetrierte Tiere sich im Raum bewegen (ROYLE et al. 2014).
Als Kompensation für die Entfernung der Inn-Dämme werden Ersatzlebensräume für die Kreuzotter geschaffen. Dies ist im besten Fall bereits 2016, sonst 2017 so weit. Sobald wir diese Ersatzlebensräume als „bezugsbereit“ für die Kreuzottern beurteilen, werden wir die Studie fortsetzen. Dies dann, wenn Kreuzottern wegen der Bauarbeiten am Inn umgesiedelt werden. Wir werden dann das Verhalten der umgesiedelten Tiere und die Nutzung der neuen Lebensräume telemetrisch untersuchen. Diese Fortsetzung wird hier aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt und ist nicht Teil des Antrags.
Das Projekt wird also folgende Aussagen erlauben:
• Analyse der Lebensraumnutzung durch die Kreuzotter: Welche Lebensraumelemente benutzt sie, und wie bewegt sie sich im Raum?
• Analyse des Verhaltens von umgesiedelten Kreuzottern inklusive einer Beurteilung, ob bei einer Umsiedlung um 1 km das Heimfindeverhalten ausbleibt.
Das Projekt hat 2016 dann begonnen, wenn die ersten Tiere aus den Überwinterungsplätzen kommen (durch die jahrelangen Beobachtungen von JC sind uns diese bekannt). Die Männchen werden vor allem im April gefangen und dann besendert. Die Weibchen werden später gefangen (Mitte April bis Ende Mai) und besendert (nach Feststellung des Fortpflanzungsstatus). Die ersten Ergebnisse sind für Anfang 2017 zu erwarten.

Sylvain Ursenbacher, Jürg Cambensy, Tobias Süess & Benedikt R. Schmidt

Literatur:

  • BÖHM, M., et al. (2013): The conservation status of the world’s reptiles. – Biological Conservation 157: 372–385.
  • GERMANO, J.M., FIELD, K.J., GRIFFITHS, R.A., CLULOW, S., FOSTER, J., HARDING, G. & SWAISGOOD, R.R. (2015): Mitigation-driven translocations: are we moving wildlife in the right direction? – Frontiers in Ecology and the Environment 13: 100–105.
  • GIBBONS, J.W., SCOTT, D.E., RYAN, T.J., BUHLMANN, K. A., TUBERVILLE, T.D., METTS, B.S., GREENE, J.L., MILLS, T., LEIDEN, Y., POPPY, S. & WINNE, C.T. (2000): The Global Decline of Reptiles, Déjà Vu Amphibians. – BioScience 50(8): 653–666.
  • HAUPT, H., LUDWIG, G., GRUTTKE, H., BINOT-HAFKE, M., OTTO C. & PAULY, A. (2009) Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands. Band 1: Wirbeltiere. S. 19-71.– Münster (Landwirtschaftsverlag), Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (1), 386 S.
  • INDERMAUR, L. & SCHMIDT, B.R. (2011): Quantitative recommendations for amphibian terrestrial habitat conservation derived from habitat selection behavior. – Ecological Applications 21(7): 2548–2254.
  • INDERMAUR, L., WINZELER, T., SCHMIDT, B.R., TOCKNER, K. & SCHAUB, M. (2009) Differential resource selection within shared habitat types across spatial scales in sympatric toads. – Ecology 90(12): 3430–3444.
  • KYEK, M., MALETZKY, M. & ACHLEITNER, S. (2007) Large scale translocation and habitat compensation of amphibian and reptile populations in the course of the redevelopment of a waste disposal site. – Zeitschrift für Feldherpetologie 14(2): 175-190.
  • LAUFER, H. (2014) Praxisorientierte Umsetzung des strengen Artenschutzes am Beispiel von Zaun- und Mauereidechsen. – Naturschutz und Landschaftspflege Baden-Württemberg 77: 93-141.
  • MEYER, A. & MONNEY, J.-C. (2004) Die Kreuzotter, Vipera berus (LINNAEUS, 1758), in der Schweiz. – Mertensiella 15: 144-155.
  • MONNEY, J.-C. & MEYER, A. (2005) Liste Rouge des reptiles menaces en Suisse.– Édit. Office fédéral de l’environnement, des forêts et du paysage, Bern, und Centre de coordination pour la protection des amphibiens et des reptiles de Suisse, Bern, Série OFEFP, L’environnement pratique, 46 S.
  • READING, C.J., LUISELLI, L.M., AKANI, G.C., BONNET, X., AMORI, G., BALLOUARD, J.M., FILIPPI, E., NAULLEAU, G., PEARSON, D. & RUGIERO, L. (2010) Are snake populations in widespread decline? – Biology Letters 6(6): 777-780.
  • ROYLE, J. A., CHANDLER, R.B., SOLLMAN, R. & GARDNER, B. (2014) Spatial capture-recapture. – Academic Press, Waltham, 577 S.
  • SCHMIDT, B. R. & INDERMAUR, L. (2014) Die Lebensweise der Erdkröte und der Wechselkröte in der Wildflussaue des Tagliamento. – Zeitschrift für Feldherpetologie 21(2): 121-132.
  • SULLIVAN, B.K., NOWAK, E.M. & KWIATKOWSKI, M.A. (2015) Problems with mitigation translocation of herpetofauna. – Conservation Biology 29(1): 12-18.
  • SAINT GIRONS, H. (1980) Biogéographie et évolution des vipères européennes. – Compte rendu des séances de la Société de biogéographie, Paris, 496: 146-172.
  • UICN FRANCE, MNHN & SHF (2015): La Liste rouge des espèces menacées en France – Chapitre Reptiles et Amphibiens de France métropolitaine. – Paris, 11 S.
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