Evaluierung der Aufnahme von Pflanzenschutzmitteln bei Mauereidechsen
Originaltitel:
Qualitative und quantitative Evaluierung der Aufnahme von Pflanzenschutzmitteln über die Nahrung von Mauereidechsen
Reptilien durchlaufen weltweite Populationsverluste. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, wobei Habitatverlust und -modifikation durch den Menschen als Hauptursachen gelten (GIBBONS et al. 2000; TODD et al. 2010). Die Weltnaturschutzorganisation IUCN stuft für Europa mittlerweile 18 % aller Reptilienarten als akut gefährdet ein (mindestens in der Kategorie „Endangered“; www.iucnredlist.org). In landwirtschaftlich genutzten Gebieten kommt es neben der anthropogenen Überformung der Habitate auch zu einem steigenden Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln (GIBBONS et al. 2000; TODD et al. 2010; WEIR et al. 2010). Somit müssen Reptilien nicht nur mit der sich verändernden Landschaft, sondern auch mit zunehmender Kontaminierung ihrer Umwelt durch insbesondere Pflanzenschutzmittel (PSM) zurechtkommen. Deren Folgen sind momentan schwer abschätzbar, da es an Felddaten mangelt. Ein Ausweichen in unbelastete Habitate ist für viele Arten bedingt durch ihre kleinen Aktionsräume (HOPKINS 2000; SHELBY & MENDONCA 2001; BERGERON et al. 2007), vor allem jedoch aufgrund der Habitatfragmentierung vielfach nicht möglich (GIBBONS et al. 2000; ATAURI & LUCIO 2001; OPDAM & WASCHER 2004; TODD et al. 2010).
Der Wissensstand um die Effekte von PSM auf Reptilien ist im Vergleich zu anderen Organismengruppen (Vögel, Fische, Säugetiere) gering (KÖHLER & TRIEBSKORN 2013), obwohl es sich um eine artenreiche Gruppe handelt. In offiziellen Zulassungsverfahren geht man davon aus, dass sich anhand von Standardtestorganismen (Vögel und Säuger) gewonnene Studienergebnisse ohne weiteres auf Reptilien übertragen lassen (WEIR et al. 2010; AMARAL et al. 2012b). Betrachtet man dies von einem physiologischen und ökologischen Standpunkt, wird jedoch schnell klar, dass dies nicht zutreffen kann (WEIR et al. 2010). Aus den eher überschaubaren Laborstudien über die Auswirkungen von PSM auf Reptilien sind bestimmte negative Effekte bekannt: von subletalen Effekten, wie einer Störung des Hormonhaushalts oder einem generellen Fitnessverlust, bis hin zu letalen Effekten (HOPKINS 2005; WEIR et al. 2010; AMARAL et al. 2012a, b).
Die Expositionspfade, über die Reptilien in (direkten oder indirekten) Kontakt mit PSM kommen können, sind divers (SPARLING et al. 2010), doch gilt die Aufnahme über die Nahrung als eine der wichtigsten Expositionsrouten (HOPKINS 2000; TODD et al. 2010). Inwiefern eine solche Exposition für in Deutschland heimische Reptilienarten überhaupt stattfindet, und falls ja, in welchen Mengen, ist bisher völlig unbekannt. Ziel des Projektes ist es, die qualitative und quantitative Exposition einheimischer Reptilien über ihre Nahrung zu quantifizieren. Als Modellart für dieses Projekt wurde die Mauereidechse (Podarcis muralis) ausgewählt. Sie kommt in Südwestdeutschland häufig in Weinbergen vor und somit in Gebieten mit regelmäßigen PSM-Einsätzen zur Bekämpfung von Unkräutern und Schädlingen (EUROSTAT 2007, SCHULTE 2008). Im Laufe der Untersuchungen werden Populationen in drei Weinbergen verschiedener Nutzungsintensität sowie eine Referenzfläche untersucht.
Um die Exposition über die Nahrungsaufnahme zu erfassen, wird die sogenannte „Portion of Diet“ angewendet, die nach der „European Food Safety Authority“ (EFSA) als „Zusammensetzung der Nahrung eines Tieres, die es im Habitat aufnimmt, das mit Pestiziden behandelt ist“, definiert ist (EFSA 2009). Dazu werden mittels Lebend-Barberfallen in den Untersuchungsflächen Beutetiere (Arthropoden) in den Applikationszeiträumen verschiedener PSM gefangen, täglich eingesammelt und bei -80 °C tiefgefroren, um anschließend eine Pestizidrückstandsanalytik durchzuführen. Dies ermöglicht eine qualitative und quantitative Bestimmung der tatsächlichen PSM-Belastung der Beute der Mauereidechse. Für die Rückstandsanalytik kommt die „QuEChERS („Quick, Easy, Cheap, Effective, Rugged, and Safe“) pesticide multiresidue method“ zum Einsatz, die über 80 verschiedene aktive Wirkstoffe in einer Probe nachweisen kann (PAYÁ et al. 2007).
Parallel dazu werden Mauereidechsen von den Untersuchungsflächen entnommen und über einen Zeitraum von sieben Tagen zwischengehältert, um Fütterungsversuche mit unbelasteter Nahrung durchzuführen. Die Tiere werden mit einer vorab bekannten Menge an Beutetieren gefüttert. Nach jedem Tag werden die nicht gefressenen Beutetiere entnommen und abgewogen. Zeitgleich werden alle untersuchten Mauereidechsen täglich vermessen und gewogen, um eine größen- und gewichtsspezifische Aufnahme zu ermitteln. Für die Versuche werden Beutetiere mittels Lebendfallen aus den jeweiligen Untersuchungsflächen gefangen und verfüttert.
Anhand der gewonnen Resultate kann abschließend ein sogenanntes „Risk Assessment“ (Risikobewertung) für die Mauereidechse nach den Richtlinien der EFSA (EFSA 2009) durchgeführt werden. Ein solches Assessment ist bis dato nicht für Reptilien vorgeschrieben und wird aus diesem Grund bei der Zulassung neuer PSM und deren Formulierungen nicht durchgeführt (MITCHELMORE et al. 2006; WEIR et al. 2010; AMARAL et al. 2012a, b). Das Expositionsrisiko für jede Population – beschrieben als „Daily Dietary Dose“ (DDD) – für diese Risikobewertung ergibt sich aus der Pestizidapplikationsrate (AR), den gemessenen Pestizidrückständen in der Nahrung (PR), dem Ratio Nahrungsaufnahme/Körpergewicht (NAG) und einem Standardwert für den Applikationsfaktor (AF) (EFSA 2009):
DDD = AR × PR × NAG × AF
Anhand im Zuge von Zulassungsverfahren bereits vorhandener LD50-Werte für die zum Einsatz kommenden Pestizide lässt sich mittels der ermittelten DDD ein „Toxicity Exposure Ratio“ (TER) ermitteln:
TER = LD50/DDD
Dieser wird mit einem sog. „trigger value“ verglichen. Liegt der ermittelte TER über dem „trigger value“, wird das Risiko für die bewertete Art bzw. Artengruppe als gering angesehen (EFSA 2009).
Die Untersuchungen werden zeigen, (a) ob es überhaupt zu einer Belastung über die Nahrung in den jeweiligen Mauereidechsenpopulationen kommt (qualitative Bewertung). Zudem (b) können die DDD und TER der Eidechsenpopulationen mit bekannten DDD und TERs von Standardtestorganismen verglichen werden, um zu bewerten, ob es zu einer vergleichsweise starken bzw. schwachen Belastung von Individuen kommt. Letztlich (c) können die Aufnahmewerte mit den wenigen bekannten Effektkonzentrationen aus toxikologischen Studien mit Reptilien verglichen werden, zudem mit bekannten Werten aus Säuger- und Vogelversuchen (WEIR et al. 2010).
Valentin Mingo, Norman Wagner, Christoph Müller, Franz Bracher & Stefan Lötters
Literatur:
- AMARAL, M.J., CARRETERO, M.A., BICHO, R.C., SOARES, A.M. & MANN, R.M. (2012a): The use of a lacertid lizard as a model for reptile ecotoxicology studies part 1: field demographics and morphology. – Chemosphere 87: 757–764.
- AMARAL, M.J., BICHO, R.C., CARRETERO, M.A., SANCHEZ-HERNANDEZ, J.C., FAUSTINO, A.M.R., SOARES, A.M. & MANN, R.M. (2012b): The use of a lacertid lizard as a model for reptile ecotoxicology studies part 2: biomarkers of exposure and toxicity among pesticide exposed lizards. – Chemosphere 87: 765–774.
- ATAURI, J A. & LUCIO, J.V. (2001): The role of landscape structure in species richness distribution of birds, amphibians, reptiles and lepidopterans in Mediterranean landscapes. – Landscape Ecology 16: 147–159.
- BERGERON, C.M., HUSAK, J.E., UNRINE, J.M., ROMANEK, C.S. & HOPKINS, W.A. (2007): Influence of feeding ecology on blood mercury concentrations
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- EUROPEAN FOOD SAFETY AUTHORITY (EFSA) (2009): Guidance document on risk assessment for birds & mammals on request from EFSA. – EFSA Journal 7: 1–139.
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- MITCHELMORE, C., ROWE, C. & PLACE, A. (2005): Tools for assessing conta – minant exposure and effects in reptiles. S. 63–122 in: GARDNER, S & OBERDORSTER, E (Hrsg.): Toxicology of reptiles. – CRC Press, New York.
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- WEIR, S.M., SUSKI, J.G. & SALICE, C.J. (2010): Ecological risk of anthropogenic pollutants to reptiles: Evaluating assumptions of sensitivity and exposure. – Environmental Pollution 158: 3596–3606.