Lebensräume der Blindschleiche
Raumnutzung und Ausbreitung
Über die Raumnutzung und Ausbreitung der Blindschleiche ist bis heute nicht allzu viel bekannt. Dies liegt sicher zum einen an ihrer versteckten Lebensweise, zum anderen an ihrer auffallenden Ortstreue. Hinzu kommt, dass Blindschleichen nicht territorial sind. So sind bei adulten Blindschleichen im Wesentlichen nur Ortsbewegungen und -veränderungen von einigen 10 m bis maximal wenigen 100 m (Maximum: 267 m) belegt, die zudem über einen Zeitraum von mehreren Wochen beziehungsweise Monaten ermittelt wurden. Eine der weitesten belegten Strecken in kürzester Zeit legte eine subadulte Blindschleiche in den Niederlanden mit 160 m in 4,5 Stunden zurück. Adulte Männchen scheinen häufiger Strecken von über 200 m zurückzulegen als Weibchen, dennoch ist zu vermuten, dass gerade Jungtiere für die Besiedlung von neuen Lebensräumen und für den Genaustausch zwischen benachbarten Populationen verantwortlich sind. Die bislang ermittelten Aktionsräume von Blindschleichen liegen auf Flächen von durchschnittlich etwa 400–500 m², maximal etwa 1.100 m², wobei sich die Aktionsräume mehrerer Blindschleichen zumindest in Teilen überschneiden können – ein Beleg dafür, dass sich die Tiere nicht territorial verhalten.
Lebensräume
Die Blindschleiche ist hinsichtlich ihrer Lebensraumansprüche sicherlich die flexibelste heimische Reptilienart. Sie besiedelt eine Vielzahl unterschiedlichster Habitate. Zudem gilt sie mehr als alle anderen heimischen Reptilien als typische Kulturfolgerin, kann sie doch selbst in Großstädten angetroffen werden. Wichtig ist allen Lebensräumen ein strukturreiches Mosaik an Sonnen- und Versteckplätzen. Zudem zeigt die Blindschleiche eine Präferenz für Lebensräume mit höherer Bodenfeuchte, wenngleich sie auch in trocken geprägten Landschaften zu finden ist. Typische und häufig von ihr besiedelte Lebensräume sind die unterschiedlichsten Laub-, Misch- und Nadelwälder; vorausgesetzt, sie weisen ausreichend offene, zeitweise besonnte Strukturen, einen hohen Anteil an deckungsreicher Bodenvegetation sowie ein hohes Maß an Versteckplätzen in Form von Totholz auf. Wälder dürften von daher schon immer typische ursprüngliche Habitate (Primärhabitate) der Blindschleiche gewesen sein. Denn durch eine natürliche Walddynamik, zum Beispiel durch Wind- und Schneebruch, Sturmwurf, Waldbrände nach Blitzeinschlägen oder auch Insektengradationen (Massenvermehrungen vor allem von Borkenkäfern), entstanden selbst im Klimaxstadium (wenn sich also die Artenzusammensetzung des Waldes nicht mehr wesentlich verändert) ausreichend geeignete Habitatstrukturen für die Blindschleiche.
In den Mittelgebirgslagen kommen zudem offene Felsstandorte mit angrenzenden Gebüschen und Bäumen sowie natürliche Geröllhalden als ursprüngliche Lebensräume hinzu. Im Alpenbereich sind es die offenen Schuttfluren und Rutschhänge, die beispielsweise durch Lawinen oder Murenabgänge entstehen. Auch unterschiedliche Moortypen, vor allem im Norddeutschen Tiefland, aber auch in den höheren Mittelgebirgslagen und im Alpenvorland, gelten als wichtige Habitate für die Blindschleiche, wenngleich der ursprüngliche Hochmoorkern sicherlich zu nass war und sich die Vorkommen auf die früheren Hochmoorrandbereiche beschränkten. Heutzutage sind viele dieser Moore degeneriert, wodurch die Blindschleiche weiter ins Innere vordringen kann.
Auch die Flussdünen entlang großer Flüsse der Tiefebene wie Oder, Elbe, Main oder Niederrhein gelten als typische Primärhabitate. Hier entstanden durch ständige Umlagerungsprozesse aufgrund der Flussdynamik immer wieder neue offene bis halboffene Lebensräume aus einem Verbund offener Flächen mit einem hohen Anteil an Rohboden (Sand), Strukturen mit teils dichter (Kraut-)Vegetation sowie angrenzendem Auwald. Durch die Regulierung und Begradigung unserer heimischen Flüsse ist dieser Lebensraum in seiner ursprünglichen Form immer mehr verlorengegangen. Heutzutage findet er sich nur noch in Teilen des Elbtales. Die landwirtschaftlich geprägte, insbesondere extensiv bewirtschaftete Kulturlandschaft mit einem Netz an Hecken, Lesesteinwällen und den dazugehörigen Saumgesellschaften sowie weiteren Kleinstrukturen stellt in der heutigen Zeit einen idealen Lebensraum für die Blindschleiche dar. Selbst in der heutzutage intensiv geprägten und größtenteils ausgeräumten Landschaft können kleinflächige, noch erhaltene Randstrukturen – aufgrund von Hanglagen meist ungeeignet für eine Bewirtschaftung – von der Blindschleiche noch besiedelt sein oder stellen ein wichtiges Trittsteinbiotop dar. Auch bei den Weinanbaugebieten mit ihren Trockenmauern handelt es sich um geeignete Habitate für die Blindschleiche.
Hinzu kommt eine Vielzahl an weiteren Sekundärstandorten, wie die verschiedensten Abgrabungsstätten (Steinbrüche, Kies- und Sandabgrabungen, Lehm- und Tongruben), Weg- und Straßenböschungen, Schutzdämme entlang von Fließgewässern, Bahndämme und brachliegendes Bahngelände, Leitungstrassen in Wäldern, Heiden, Mager- und Trockenrasen, Wachholderheiden, Streuobstwiesen, Ruderalund Brachflächen sowie naturnahe Gärten, weniger intensiv gepflegte Parkanlagen oder auch Friedhöfe. Dabei ist die Blindschleiche nicht nur regelmäßig in Dörfern zu finden, sondern auch in den Randbereichen größerer Städte. Selbst in innerstädtischen Parkanlagen und Kleingärten kann sie vorkommen.
Entscheidend für die Eignung aller hier genannten Lebensräume ist ein reichhaltiges Mosaik an Kleinstrukturen (Mikrohabitate) mit einem geeigneten Mikroklima: So bieten liegendes Totholz, Rindenstücke, Baumstubben oder größere Steine geeignete Tagesverstecke, unter denen – bei ausreichender Größe – auch nach Nahrung gesucht werden kann. In Siedlungsbereichen werden diese natürlichen Verstecke vor allem durch Bretter und Komposthaufen ersetzt. Daneben sind zur Thermoregulation, insbesondere im Frühjahr und Spätsommer, kleinflächige, sich schnell erwärmende Bereiche mit organischem, meist dunklem Substrat wie Laubstreu, trockene Altgrasbestände oder offene Rohbodenbereiche gefragt, die durch angrenzende oder teils überhängende Vegetation ausreichend Deckung bieten.
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