Das Mauereidechsenjahr
Fortpflanzung
Abgesehen von kurzen Aktivitätsphasen bei Schönwetterereignissen in den Wintermonaten beginnt ein Jahr im Leben der Mauereidechse zeitig gegen Ende Februar oder Anfang März. Die Männchen erscheinen bei Schönwetter rund 3–4 Wochen vor den Weibchen aus ihren Winterverstecken und beginnen nach der ersten Häutung mit Revierkämpfen. Ziel dieser Kämpfe ist es, noch vor Erscheinen der Weibchen Reviergrenzen mit einem artspezifischen Sekret aus Hautdrüsen auf der Innenseite der Oberschenkel (Femoralporen) zu markieren und zu besetzen. Das Revier eines einzelnen adulten Männchens kann, je nach Nahrungs- und Weibchenangebot, eine Größe von 15–50 m² haben, wobei nicht alle Männchen ein Revier besitzen und vor allem jüngere Männchen ständig auf der Suche sind, ein Revier aufzubauen. Generell haben die größten und dominantesten Männchen auch die größten Reviere. Da Rangordnungskämpfe zwischen den Weibchen wesentlich seltener stattfinden, finden sich in den Revieren der dominanten Männchen mehrere Weibchen ein, und der Reproduktionserfolg des Revierbesitzers steigt. Ortsungebundene Männchen ohne Revier hingegen haben es schwerer, sich mit einem Weibchen zu verpaaren. Es sollte einem jedoch bewusst sein, dass ein solches System sehr dynamisch ist und sich die Rangordnung jedes Jahr aufs Neue ändern kann. Mit dem Erscheinen der Weibchen beginnt eine Phase der Paarbildung von März bis Mitte Juli. Begattungen (Kopulationen) können am häufigsten Ende April und im Mai beobachtet werden. Nach vorangegangener Häutung zeigen sich die Männchen zu dieser Zeit sehr ansprechend gefärbt und kontrastreich gezeichnet. Nicht selten leuchten die Bauchrandschilde himmelblau, und auch die Kehle und Unterseite sind auffällig gelblich, orange oder rötlich gefärbt. Kurz vor der Paarung nähert sich das Männchen in Imponierhaltung (Drohbalz) einem exponiert sitzenden Weibchen. Dieses bleibt nun entweder liegen und ist damit paarungsbereit oder aber signalisiert dem Männchen durch starkes Treteln (mehr oder weniger rhythmische Bewegung mit den Vorderbeinen), Kopfnicken, Schwanzzittern und Wegbeißen seine Paarungsunwilligkeit. Bei Paarungsbereitschaft setzt das Männchen einen Paarungsbiss am Schwanz oder in der Flankengegend des Weibchens. Das Weibchen antwortet seinerseits mit einem für Eidechsen typischen Paarungslauf: Über eine kurze Distanz von etwa 50 cm zieht das Weibchen das Männchen hinter sich her und gibt ihm durch die vorgegebene Richtung eine Orientierungshilfe für die Koordination der Paarung. Sowohl Männchen als auch Weibchen verhalten sich promiskuitiv (Paarung mit unterschiedlichen Partnern). So konnten innerhalb einer Schweizer Population durch genetische Vaterschaftsanalysen mittels Mikrosatelliten multiple (mehrfache) Vaterschaften in mindestens 87 % (27 von 31 Fällen) der untersuchten Gelege nachgewiesen werden. Die eigentliche Partnerwahl geht vom Weibchen aus, welches sich vermutlich aufgrund optischer Signale, wie Färbung oder Größe, sowie geruchlicher Signale (Pheromone) und aufgrund des Verhaltens (Territorialität) mit einem Männchen verpaart. Wie bereits für andere Mauereidechsenarten bekannt, könnten bestimmte chemische Botenstoffe des Schenkelporensekrets der Männchen, die ein starkes Immunsystem signalisieren, das Weibchen zur Paarung veranlassen.
Eiablage und Schlupf
Etwa 30 Tage nach der Paarung kommt es zwischen Mai und Mitte August zur Eiablage. Aufgrund der oft schwankenden Klimabedingungen an der nördlichen Verbreitungsgrenze ist der Zeitraum potenzieller Eiablagen in Deutschland zeitlich recht ausgedehnt. Bei vorteilhafter Witterung können im Frühjahr und Sommer offenbar auch zwei Gelege abgesetzt werden. Zur Eiablage sucht das Weibchen häufig vegetationsarme bis -freie Schuttflächen unterhalb von Felsen (oder Flächen am Mauerfuß) auf, die lockeres Substrat aufweisen. Nach einigen Probegrabungen wühlt das Weibchen dort unter großer Anstrengung, teilweise 2–4 Stunden andauernd, ca. 10–20 cm lange Gänge ins lockere, sandige Erdreich, an deren Ende die Eier in Höhlen gelegt werden. Die Gelegegröße schwankt in der Regel zwischen 3 und 11 Eiern.
Die Entwicklungszeit der Eier und auch der Schlupferfolg sind stark temperaturabhängig. Klimatisch ungünstige Jahre mit kühlen, verregneten Sommern verzögern die Inkubationsdauer (Entwicklungszeit bis zum Schlupf). Die Folge ist ein extrem später Schlupf der Jungtiere (z. B. am 14. Oktober 1978 in Maastricht, Niederlande) und letztlich ein sehr geringer Reproduktionserfolg. Auch langfristige Auswirkungen unvorteilhaft hoher Temperaturen in der Anfangsphase der Inkubation (in den ersten 14 Tagen) auf die körperliche Verfassung der Schlüpflinge sind nachgewiesen. Eine von vielen anderen Reptilien (z. B. Europäische Sumpfschildkröte) bekannte temperaturabhängige Geschlechtsdetermination (temperaturabhängige Festlegung des Geschlechts) ist bei der Mauereidechse nicht bekannt. Die für die Entwicklung der Eier optimale Temperatur liegt bei etwa 28 °C (kritischer Grenzbereich: 29–32 °C). Je nach den Klimaverhältnissen eines Jahres kann die Inkubationsdauer in Mitteleuropa zwischen 6 und 11 Wochen schwanken. Die Jungtiere schlüpfen normalerweise zwischen Ende Juli bis Anfang September, doch ist dies sehr variabel, und in Jahren mit warmen Sommern kann der Schlupf auch bereits Anfang Juli erfolgen (Mannheim: 05.07.2010; eig. Beob.). Ein früher Schlupf steigert generell die Chancen der jungen Mauereidechsen, genügend Reserven für eine erfolgreiche Überwinterung anzulegen. Der eigentliche Schlupfvorgang wird durch einen Flüssigkeitsverlust des Eis eingeleitet, sichtbar durch kleine Wasserperlen auf der Eioberfläche. Kurze Zeit später ritzt die kleine Eidechse mit ihrem Eizahn einen kleinen Längsschnitt in die Eihülle und befreit sich mit ruckartigen Bewegungen aus dem Ei. Frisch geschlüpft sind die Eidechsen gerade einmal 54–64 mm groß (Kopf-Rumpf-Länge 23–27 mm, Schwanzlänge 31–37 mm, Gewicht 0,3–0,4 g).
Das Beutespektrum
Bereits einige Tage nach dem Schlupf, sobald alle Dotterreste aufgebraucht sind und der Nabelspalt geschlossen ist, jagen die Jungtiere aktiv nach Insekten. Je nach Schlupfzeitpunkt bleiben ihnen vor der Überwinterung 6–9 Wochen zum Aufbau von Fettreserven. Mauereidechsen sind aktive Streifjäger, die ihren Lebensraum unter starkem Züngeln mehrmals am Tag bis in den letzten Winkel nach Nahrung absuchen. Ist die Beute einmal erspäht, beeindrucken die Eidechsen den Beobachter durch ihre Schnelligkeit und Beweglichkeit, aber auch durch ihre Fangsicherheit. Generell ist die Mauereidechse ein Nahrungsopportunist, deren Beutespektrum weitestgehend der Häufigkeit an aktuell verfügbaren Beutetieren innerhalb des Lebensraums entspricht – allerdings mit einer gewissen Präferenz für Insekten und andere Gliederfüßer. Häufig dominieren Zweiflügler, Spinnentiere, Asseln und Tausendfüßer – aber auch Schmetterlinge, Käfer, Hautflügler, Schnecken, Regenwürmer und Springschwänze werden erbeutet. In Weinanbaugebieten fressen Mauereidechsen teilweise sogar herabgefallene Weintrauben. Wie auch von anderen Eidechsenarten bekannt, ist gelegentlich Kannibalismus gegenüber Jungtieren zu beobachten.
Feinde und Verteidigungsmechanismen
Mauereidechsen werden in erster Linie von Greifvögeln, wie Turmfalke und Mäusebussard, aber auch von Neuntöter und Rabenkrähe erbeutet. In der Literatur finden sich außerdem zahlreiche Berichte über einen hohen Anteil erbeuteter Mauereidechsen in der Nahrung der Schlingnatter (insbesondere der Jungtiere). Im Enzkreis in Baden-Württemberg konnten Mauereidechsen zu 77 %, Zauneidechsen zu 18 % und Blindschleichen zu 3 % in der Nahrung der Schlingnatter nachgewiesen werden. Die weitestgehende Überschneidung im Verbreitungsareal und in den Habitatansprüchen der Mauereidechse und der Schlingnatter bedingt eine opportunistische (an die Situation angepasste) Verhaltensweise, die in der Evolution zu einem „Wettrüsten“ auf beiden Seiten führte. So ist die Schlingnatter selbst in dunklen Spaltensystemen dazu befähigt, Mauereidechsen als Beute exakt zu orten, die wiederum olfaktorisch (geruchlich) die Anwesenheit der Schlingnatter bemerken und komplexe, darauf abgestimmte Verhaltensweisen zur Feindvermeidung entwickelt haben. Mauereidechsen sind sogar in der Lage, olfaktorisch zwischen für sie gefährlichen und harmlosen Schlangen zu differenzieren. Einen nicht zu unterschätzenden Prädationsdruck auf Populationen üben insbesondere im Siedlungsbereich Hauskatzen, aber auch Hühner aus. Dabei sind vor allem Individuen ohne festes Revier gefährdet, erbeutet zu werden. Kleinsäuger, wie Spitzmäuse, Wanderratten, Wiesel und Steinmarder, hingegen spielen eine eher untergeordnete Rolle als Feinde der Mauereidechse.
Überwinterung – ein Thema mit Überraschungen
Für Mauereidechsen ist es lebensnotwendig, ausreichend Fettdepots in Bauchhöhle, Leber und Schwanz als Energiereserven anzulegen, um erfolgreich überwintern zu können. Ein Schwanzverlust kann daher insbesondere kurz vor der Überwinterung problematisch sein, denn damit gehen wichtige Energiereserven verloren. Je nach Witterungsverhältnissen suchen die Tiere gegen Ende Oktober/Anfang November frostfreie Spaltensysteme als Überwinterungsquartiere auf. Generell ist zu beobachten, dass die Jungtiere im Herbst länger aktiv sind als die Adulten, womöglich um genügend Energiereserven für die Wintermonate aufzubauen. Gut geeignete Quartiere, in denen die Temperatur nicht auf unter 5 °C fällt, werden häufig von mehreren Individuen genutzt. Obwohl Mauereidechsen wie alle einheimischen Reptilien eine Winterruhe halten, die etwa von Ende Oktober bis Anfang März dauert, stellt die partielle Winteraktivität dieser Art eine Besonderheit dar. So ist die Mauereidechse die einzige heimische Eidechse, die unter Hochdruckeinfluss und bei Schönwetterereignissen, sofern die Lufttemperaturen nur geringfügig über 0 °C liegen, in jedem Monat des Winterhalbjahres außerhalb ihres Unterschlupfes nachgewiesen werden kann. Zur Verwunderung vieler kann man Mauereidechsen bei entsprechender Witterung dann an trockenen Gesteinsstrukturen, unweit von schmelzendem Schnee beobachten. Wichtig dabei ist, dass die Oberflächentemperatur des Substrats durch die Sonneneinstrahlung auf etwa 12–14 °C erhöht ist – die Lufttemperatur in unmittelbarer Umgebung im Schatten dagegen kann um den Gefrierpunkt liegen.
Wanderungen
Neben Einzelbeobachtungen wandernder Mauereidechsen gibt der hohe Anteil (z. T. 40–60 %) markierter Tiere, die in Fang-Wiederfang-Studien nicht mehr wiederentdeckt werden, einen Hinweis auf Migrationen (Wanderungen), aber auch auf hohe Mortalitätsraten. Eine Abwanderung kann z. B. stattfinden, um neue, unbesetzte Reviere oder Paarungspartner zu suchen. Ebenso können Abwanderungen durch eine zu hohe Individuendichte, verbunden mit starker Territorialität durch Artgenossen, sowie durch eine Verschlechterung der Habitatqualität ausgelöst werden. Die dokumentierten zurückgelegten Entfernungen schwanken zwischen 50 und 1.000 m – so konnten in bewirtschafteten Weinanbaugebieten markierte Individuen nach 1 bzw. 3 Jahren in bis zu 500 m Entfernung vom Markierungsort wiedergefunden werden. Auch wenn konkrete Daten bislang fehlen, geht man bei der Mauereidechse, wie bei Wald- und Zauneidechsen belegt, davon aus, dass noch nicht geschlechtsreife Männchen am weitesten und häufigsten migrieren. Dafür sprechen die oben erwähnte stärker ausgeprägte Territorialität der Männchen gegenüber dem eigenen Geschlecht sowie die unterschiedlichen Wiederfangraten der Geschlechter und die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Überlebensraten von Schlüpflingen.
Textquelle: Aktionsbroschüre 2011: Die Mauereidechse (download)
Download als PDF