Namen und Verbreitung der Blindschleiche
Die Benennung der europäischen Blindschleichen
Die einheimische Blindschleiche gehört innerhalb der Schuppenkriechtiere (Squamata) zur Familie der Schleichen (Anguidae), der weltweit etwa 75 Arten zugeordnet werden. In Europa sind nur die Gattungen Pseudopus – mit einer Art, dem Scheltopusik (P. apodus) – und Anguis (Blindschleichen mit insgesamt fünf Arten) vertreten.
Der wissenschaftliche Name der Blindschleiche, Anguis fragilis, geht auf den schwedischen Naturforscher Carl von Linné zurück. Linné unterschied in seiner 1758 veröffentlichten „Systema Naturae“ die heutigen Wirbeltierklassen Amphibien und Reptilien noch nicht, sondern fasste diese in der Klasse Amphibia zusammen. Dabei ordnete er alle Tiere, die zwar Schwänze, aber keine Beine haben, der Ordnung Serpentes (Schlangen) zu. Dies erklärt den noch heute gültigen Gattungsnamen „Anguis“ (lat. Schlange). Der Artname „fragilis“ (lat. zerbrechlich) nahm Bezug auf die schon damals bekannte „Zerbrechlichkeit“ der Blindschleiche, also die Fähigkeit, in Gefahrensituationen ihren Schwanz abzuwerfen, möglicherweise auch auf den bei Totfunden oft in viele Teile zerbrochenen Schwanz.
Auch die deutsche Namensgebung der „zerbrechlichen Schlange“ ist irreführend, denn die Blindschleiche ist natürlich nicht blind, sondern kann wie alle Echsen, zu denen sie heute zählt, durchaus sehen und ihre Augen auch mittels Augenlid schließen. Der Name „Blindschleiche“ leitet sich vielmehr aus dem Althochdeutschen „blintoslīh“, „blintoslīhho“ beziehungsweise „blintslīhha“ (blint = blenden, schimmern, glänzen; slīhhan = schleichen) ab, was so viel wie „blendender Schleicher“ heißt und sich auf die bleiglänzende Färbung („Plinte“) der Tiere bezieht. Mit „Blende“ ist in der Mineralogie und bei Bergleuten ein glänzendes Erz gemeint, Der Name trügt: Blind ist Anguis fragilis keineswegs – wie alle Echsen kann die Blindschleiche sehen und meist die Zinkblende beziehungsweise das Zinkerz.
Neben der heute als Westliche Blindschleiche bezeichneten einheimischen Anguis fragilis werden mittlerweile vier weitere Arten in Europa unterschieden. Die ehemalige östliche Unterart (A. f. colchicus) wird erst seit wenigen Jahren als eigene Art angesehen: die Östliche Blindschleiche (Anguis colchica). Sie ist mit zwei Unterarten (A. c. incerta und A. c. orientalis) von Finnland über weite Teile Osteuropas bis zum mittleren Ural und Westsibirien, südlich bis zum Schwarzen Meer, ins Kaukasusgebiet und in den Nordiran verbreitet. Die beiden weiteren, erst vor kurzem neu beschriebenen Arten unterscheiden sich in Färbung und Gestalt kaum von den einheimischen Blindschleichen und sind vor allem aufgrund genetischer Unterschiede definiert. Die Italienische Blindschleiche (Anguis veronensis) besiedelt das italienische Festland, das Tessin sowie den südöstlichen Grenzraum Frankreichs, während die Griechische Blindschleiche (Anguis graeca) in Albanien, Mazedonien und weiten Teilen Griechenlands inklusive Korfu zu finden ist. Die schon lange bekannte, auch äußerlich klar unterschiedene Peloponnes-Blindschleiche (Anguis cephallonica) wiederum ist nur auf der griechischen Halbinsel Peloponnes und einigen angrenzenden Ionischen Inseln beheimatet.
Verbreitung in Europa
Mit der Artaufteilung in den vergangenen Jahren hat sich das bisher bekannte Verbreitungsgebiet von Anguis fragilis deutlich verändert. Die Westliche Blindschleiche ist demnach in West- und Mitteleuropa sowie in Teilen Süd- beziehungsweise Südosteuropas zu finden. Ihr Verbreitungsgebiet reicht von Portugal (hier finden sich die südlichsten Vorkommen im Raum Lissabon) über Nordspanien entlang des 40. Breitengrades (40° N) über ganz Frankreich und Großbritannien bis an die Südküste von Norwegen und nach Schweden. Hier kommt sie bis zum 65° N vor und erreicht den nordöstlichsten Rand ihrer Gesamtverbreitung. Auch auf Gotland und Öland ist sie zu finden. Im Osten ist die Verbreitungsgrenze bislang nicht sicher definiert, und es kommt zu einer breiten Überschneidungszone mit der früher als Unterart A. f. colchicus geführten Östlichen Blindschleiche, Anguis colchica. Dieses Band reicht etwa von der Danziger Bucht, dem Grenzbereich zwischen Tschechien und der Slowakei über die große Ungarische Tiefebene, dem östlichen Grenzbereich Serbiens und dem Südwesten Bulgariens bis in den Nordosten Griechenlands (hier befindet sich die südöstliche Verbreitungsgrenze des Gesamtareals). Über den Nordrand Mazedoniens, die Südgrenzen von Serbien und Montenegro verläuft das aktuelle Verbreitungsgebiet gen Nordwesten bis in den Grenzbereich Italiens und über Österreich, Liechtenstein und die Schweiz bis nach Frankreich. Die Mittelmeerinseln in der Adria werden von der Westlichen Blindschleiche mit wenigen Ausnahmen wie Cres oder Krk nicht besiedelt. Die Höhenverbreitung der Westlichen Blindschleiche reicht von den Küstenregionen der Nord- und Ostsee bis hinauf in die alpinen Bereiche auf etwa 2.400 m ü. NN (Pyrenäen, südliche Zentralalpen Österreichs).
Verbreitung in Deutschland
In Deutschland zählt die Blindschleiche zu den häufigsten Reptilienarten. Sie ist allgemein weit verbreitet und kommt fast überall, von den Küstenregionen und dem Norddeutschen Tiefland über die Mittelgebirge bis in den Alpenraum vor. In Schleswig-Holstein ist die Blindschleiche bis zur dänischen Grenze zu finden und in weiten Teilen der Geest und des Östlichen Hügellandes zerstreut verbreitet, während die Marsch nicht besiedelt wird. Lediglich bei St. Peter-Ording findet sich ein vom übrigen Verbreitungsgebiet völlig isoliertes Vorkommen. Die Geestinseln Amrum, Föhr und Sylt sind die einzigen Nordfriesischen Inseln, auf denen die Blindschleiche zu finden ist. Möglicherweise sind die dortigen Vorkommen erst in den letzten Jahrzehnten durch ungewolltes Verschleppen oder gezielte Ansiedlungen entstanden. Die niedersächsische Marsch wird von der Blindschleiche ebenfalls nicht besiedelt, und auch auf den Ostfriesischen Inseln fehlt sie. An der Ostseeküste ist sie weit verbreitet. Auch auf Fehmarn, Hiddensee, Rügen und Usedom kommt sie vor, auf den beiden letztgenannten Inseln ist sie sogar häufig. Außerhalb der Marschgebiete ist Anguis fragilis im norddeutschen und nordostdeutschen Tiefland weit verbreitet. Im niedersächsischen Tiefland stellen die Lüneburger Heide, das Weser-Aller-Flachland, die Stader Geest und das Wendland Verbreitungsschwerpunkte dar, während nach Westen die Vorkommen deutlich ausdünnen. Auch im Tiefland von Nordrhein-Westfalen ist die Blindschleiche lückiger verbreitet und kann in den intensiv landwirtschaftlich geprägten Regionen, insbesondere den Börden, oder auch den Ballungsräumen weiträumig fehlen. Im Schwalm-Nette-Gebiet, in der Niersniederung, am Niederrhein und im westlichen, nördlichen sowie zentralen Münsterland finden sich hingegen noch zusammenhängend besiedelte Verbreitungsgebiete. Auch in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin ist die Blindschleiche weit verbreitet. Wobei sie auch hier in den intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten der Uckermark, in der Prignitz und im oberen Peenegebiet recht selten ist. In Sachsen-Anhalt werden die waldfreien, großflächigen Ackerlandschaften, wie das Hallesche Ackerland, die Magdeburger Börde oder die Lützen-Hohenmölsener Platte von der Blindschleiche weitgehend gemieden, oder sie fehlt hier sogar ganz, wie im Köthener Ackerland oder im Keuperbecken südlich Eckartsberga.
Auch in einigen Flusslandschaften, wie dem Baruther Urstromtal oder der Fuhneniederung, sowie in den meisten Tagebauregionen, konnte die Blindschleiche bislang nicht nachgewiesen werden. In den Mittelgebirgen ist die Blindschleiche weit verbreitet und häufig. Das niedersächsische Bergland wird von ihr ebenso flächendeckend besiedelt wie der Harz, wo sie bis zur Brockenkuppe (1.140 m ü. NN) nachgewiesen werden konnte. In Sachsen-Anhalt konzentrieren sich die Vorkommen auf die größeren, zusammenhängenden Waldgebiete des Hügellandes im Fläming, in den Westlichen Altmarkplatten, der Dübener Heide und der Altmarkheide sowie im Harz mit seinem Umland. Auch in Sachsen und Thüringen ist sie weit verbreitet und scheint nur lokal zu fehlen. Verbreitungsschwerpunkte finden sich hier im Thüringer Wald und seinen Ausläufern, im Eichsfeld, in der Hainleite, im Erzgebirge und in der Oberlausitz. In den Ackerlandschaften des nördlichen Thüringer Beckens ist die Blindschleiche selten. In Hessen ist sie in allen Landesteilen zu finden. Verbreitungsschwerpunkte liegen auch hier in den bewaldeten Mittelgebirgen wie Taunus, Spessart oder Odenwald sowie dem Hessischen Bergland. In der Rheinebene scheint sie seltener zu sein, was auch hier auf die großflächig intensive landwirtschaftliche Nutzung zurückzuführen sein dürfte. Auch in den waldreichen und vor allem gebirgigen Regionen Nordrhein-Westfalens wie dem Weserbergland, dem Südwestfälischen Bergland, dem Bergischen Land und der Eifel ist die Blindschleiche nahezu flächendeckend verbreitet. Dies gilt ebenso für die Pfalz. Verbreitungslücken finden sich nur in den wald- und strukturarmen Regionen des südlichen Rheinhessens, in der nördlichen Vorderpfalz und im Neuwieder Becken. Vorkommensschwerpunkte liegen in den Flusstälern, insbesondere im Lahntal, und in den südlichen Mittelgebirgen. Im Saarland dürfte die Blindschleiche allgemein sehr weit verbreitet sein. Und auch in Baden-Württemberg ist sie durchaus häufig und weit verbreitet. Lediglich in den Hochlagen des Schwarzwaldes sowie in Oberschwaben ist sie von Natur aus selten und kommt relativ zerstreut vor.
In Bayern dürfte ihr etwaiges Fehlen in vielen Teilen des Landes (wie auch in den meisten anderen Bundesländern) eher auf Nachweislücken zurückzuführen sein als auf real existierende Verbreitungslücken. Schwerpunkte der Verbreitung finden sich in der Fränkischen Alb, im Frankenwald, im Fichtelgebirge, im Oberpfälzer Wald und im Bayerischen Wald. Gleiches gilt für den Spessart, und auch das Mittelfränkische Becken zählt zu den Verbreitungsschwerpunkten. Südlich der Donau konzentrieren sich die Nachweise entlang der Flusstäler (vor allem Lech, Isar, Inn, Salzach), wohingegen in landwirtschaftlich intensiv genutzten Regionen wie etwa im Gäuboden die Blindschleiche weitestgehend fehlen dürfte. Im Voralpengebiet sowie im Alpenraum ist sie wiederum regelmäßig verbreitet. Hier ist sie bis in Höhenlagen von 1.700 m ü. NN nachgewiesen.
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