Biologie der Blindschleiche

Nov 22, 2016 by     Posted under: Reptil des Jahres 2017: Die Blindschleiche

Die Jahres- und Tagesaktivität

Die Jahres- und Tagesaktivität der Blindschleiche richtet sich wie bei allen einheimischen Reptilien nach den äußeren Klima- und Witterungsverhältnissen. Die Hauptaktivitätsphase beginnt bei uns in der Regel Ende März/Anfang April, wobei in klimatisch begünstigten Jahren beziehungsweise Regionen auch schon Anfang oder Mitte Februar einzelne Exemplare beobachtet werden können. Meist verlassen zunächst die adulten Männchen ihr Winterquartier, um die erste Sonnenwärme zu nutzen und die Spermienentwicklung und Reifung vor der Paarung abzuschließen. Die Paarungszeit beginnt im April und kann bis in den Juni/Juli andauern. Meist Mitte Oktober/Anfang November endet dann die gut siebenmonatige Aktivitätsphase der Blindschleiche, wobei erwachsene Tiere die Winterverstecke oft früher aufsuchen als Jungtiere. Beobachtungen einzelner aktiver Tiere im Dezember oder Januar, gerade in milden Wintern, lassen eher auf eine Unterbrechung der Winterruhe schließen, bei der die Tiere ihr Winterquartier bei geeigneten Außentemperaturen zeitweise verlassen. Die Winterruhe selbst dauert in Mitteleuropa üblicherweise 4–5 Monate.

Anguis fragilis bei der Häutung auf einem Waldweg, Foto: A. Nöllert

Anguis fragilis bei der Häutung auf einem Waldweg, Foto: A. Nöllert

Während der Hauptaktivitätsphase werden Blindschleichen nur selten im offenen Gelände angetroffen. Dies mag zum einen an der relativ geringen Vorzugstemperatur von 20–25 °C liegen, zum anderen an der allgemein recht versteckten Lebensweise und der bevorzugten Thermoregulation, bei der die Blindschleiche die Umgebungswärme nutzt und die geeignete Körpertemperatur geschützt in Verstecken, vorwiegend unter Rindenstücken oder Steinen, erlangt. Ein offenes Sonnen, wie man es von anderen Reptilien wie den Eidechsen kennt, erfolgt eher selten, meist bei intensiver Bewölkung oder nach längeren Schlechtwetterperioden. Auch dann liegt die Blindschleiche oft in der dichten Vegetation und im Halbschatten, denn so kann sie noch eine ausgewogene Thermoregulation betreiben und ist zugleich vor potenziellen Feinden gut geschützt. Allerdings kann man die Blindschleiche gerade auf Waldwegen häufiger offen sonnend antreffen, vor allem abends, wobei sie dann sicherlich auch die Strahlungswärme des Untergrundes zum Aufwärmen nutzt. Grundsätzlich zeigt die Blindschleiche über den Tag keine besonderen Aktivitätsphasen, so kann sie sowohl in den frühen Morgenstunden und in der Mittagszeit als auch am Abend angetroffen werden. Entscheidend hierfür sind die lokal vorherrschenden Witterungs- und Temperaturverhältnisse. In den warmen Sommermonaten ist die Blindschleiche teilweise auch dämmerungs- beziehungsweise nachtaktiv.

Fortpflanzung

Das Männchen fixiert das Weibchen mit einem Nackenbiss, um es sicher festzuhalten, Foto: S. Schleich

Das Männchen fixiert das Weibchen mit einem Nackenbiss, um es sicher festzuhalten, Foto: S. Schleich

Im April, häufig erst im Mai oder Anfang Juni, erfolgt die Paarung. Die Männchen sind dabei offensichtlich in der Lage, Weibchen durch Duftstoffe zu lokalisieren. Sobald sie ein Weibchen ausfindig gemacht haben, beginnt ein kurzes Werben, bei dem das Männchen das Weibchen umkriecht und es dabei gegebenenfalls auch in die Flanke beißt. Nicht selten setzen sich paarungsunwillige Weibchen mit Gegenbissen zur Wehr. Schlussendlich verbeißt sich das Männchen im Nackenbereich des Weibchens, um dieses sicher festzuhalten. Danach versucht es seinen Körper soweit herumzubiegen, bis es seine Kloake von unten an die des Weibchens pressen kann. Bei der nun folgenden Kopulation führt  das Männchen einen seiner Hemipenes (bei der Blindschleiche sind ebenso wie bei den Schlangen die Begattungsorgane paarig angelegt) in die Kloake des Weibchens ein, und es kommt zur inneren Befruchtung. Meist findet die Paarung, die durchaus mehrere Stunden andauern kann, an versteckten Plätzen statt, etwa zwischen Büschen, in der Laubschicht oder in dichter Vegetation, aber auch unter Verstecken wie Brettern, sodass man die Tiere nur selten hierbei beobachten kann. Während der Paarungszeit zeigen Blindschleichen-Männchen mitunter ein aggressives Verhalten untereinander. So kann es zu sogenannten Kommentkämpfen kommen, wie sie zum Beispiel auch von der Kreuzotter oder der Äskulapnatter bekannt sind. Bei den ritualisierten Kämpfen der Blindschleiche beißen sich die Männchen gegenseitig in den Schwanz, in den Flankenbereich oder hinter den Kopf. Auch ein gegenseitiges Verdrillen des Körpers und des Schwanzes sowie der Versuch, den Rivalen auf den Rücken zu drehen, kann beobachtet werden. Blindschleichen zählen zu den sogenannten ovoviviparen Reptilien. Sie gebären also vollständig entwickelte Jungtiere, deren Embryonalentwicklung in den dünnen Eihüllen im Mutterleib stattfindet. Die Nährstoffversorgung erfolgt über den Eidotter. Nach einer etwa dreimonatigen Tragzeit werden die Jungtiere in der Regel Ende Juli bis Mitte September geboren. Vereinzelt können Geburten auch noch im Oktober erfolgen. Die Geburt der Jungtiere kann sich über mehrere Stunden erstrecken. Schon während des Geburtsvorganges oder unmittelbar danach befreien sich die Jungtiere aus der Eihülle und sind ab da vollkommen selbstständig.

Im Durchschnitt gebären Blindschleichen 6–12 Jungtiere, die bei ihrer Geburt etwa 6–9 cm lang und meist ein halbes Gramm schwer sind. Die Anzahl der Jungtiere pro Wurf ist von der Größe der Weibchen abhängig. So können große Weibchen deutlich mehr Junge (bis zu 23) zur Welt bringen. In Mitteleuropa nehmen Blindschleichen-Weibchen oft nur alle zwei Jahre an der Reproduktion teil, da der Gewichtsverlust nach der Geburt ausgeglichen und die ursprüngliche Körperfitness erst wieder hergestellt sein muss, um die Eianlagen für eine erneute Fortpflanzung bilden zu können. In vielen Gegenden scheinen sich allerdings große, kräftige Weibchen durchaus auch regelmäßiger fortzupflanzen, möglicherweise jährlich.

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Während des Geburtsvorgangs oder unmittelbar danach entledigen sich die durchschnittlich 6–12 Jungtiere der Eihülle und sind ab diesem Zeitpunkt vollkommen selbstständig, Fotos: R. Podloucky, D. Alfermann, A. Kwet

Nahrung und Nahrungserwerb

Eine willkommene Mahlzeit sind Schnecken, Foto: S. Lindner

Eine willkommene Mahlzeit sind Schnecken, Foto: S. Lindner

Die Blindschleiche ernährt sich in erster Linie von nur wenige Zentimeter großen (1–4 cm langen) Nacktschnecken und Regenwürmern; aber auch andere Wirbellose wie Insekten (vor allem Käfer und deren Larven sowie Schmetterlingsraupen), Asseln und Spinnen zählen zu ihrem Beutespektrum. Hin und wieder werden sogar kleine Gehäuseschnecken gefressen, die dann vor dem Verzehr aus der Schale befreit werden. Je nach Lebensraum kann das Nahrungsspektrum variieren. In eher feuchter geprägten Habitaten machen Schnecken und Regenwürmer den wesentlichen Anteil der Beute aus, in trockeneren Biotopen sind es Asseln, Spinnen und verschiedene Insekten. Das Fressen von anderen Reptilien wie Waldeidechsen, juvenilen Ringelnattern oder gar eigenen Artgenossen stellt die absolute Ausnahme dar, ebenso der Verzehr von Amphibien. Ihre Beute spürt die Blindschleiche meist in den frühen Vormittagsstunden sowie in der Abenddämmerung auf, aber auch nachts sowie nach warmen Sommerregen geht sie auf Nahrungssuche. Häufig jagt sie unterirdisch beziehungsweise in Hohlräumen unter Baumstämmen und Steinen sowie in der Laubstreu oder in Komposthaufen.
Hat sie ein geeignetes Beutetier entdeckt, nähert sie sich diesem züngelnd, um dann in geringem Abstand davor zu verharren und es unter Seitenwendungen des Kopfes zunächst genauer zu betrachten. Kurz darauf erhebt sie den Kopf, öffnet langsam ihr Maul und stößt, wenn auch bedächtig, zu, um es mit ihren kleinen spitzen, nach hinten gebogenen Zähnen fest zu ergreifen. Oft drückt sie die Beute dabei gegen den Boden und hält sie so eine Weile fest, ehe sie sie dann – in der Regel mit dem Kopf voran – allmählich durch Vorwärtsgreifen der Zähne verschlingt. Bei sehr großen und kräftigen Nacktschnecken (> 5 cm) kann es durchaus 45 Minuten dauern, bis diese verspeist sind. Sehr kleine Beutetiere wie Asseln werden nach dem Ergreifen sofort vollständig gefressen. Nach erfolgreichem Verschlingen der Beute wischt die Blindschleiche durch seitliche Bewegungen des Kopfes ihr Maul am Boden beziehungsweise im Gras oder Moos ab. Ihren Wasserhaushalt deckt die Blindschleiche über die Aufnahme von Tautropfen an Grashalmen, oder sie trinkt aus kleinen Pfützen und anderen Gewässern.

Feinde

Die Blindschleiche hat eine Vielzahl natürlicher Feinde. In erster Linie sind es verschiedene Vogel- und Säugetierarten. Unter den Vögeln zählen insbesondere Greifvögel wie der Mäusebussard und der Turmfalke dazu, aber auch Rot- und Schwarzmilan sowie Schlangen- und Schreiadler erbeuten Blindschleichen. Selbst bei Waldkauz und Uhu konnte die Blindschleiche schon als Nahrung nachgewiesen werden. Rabenkrähen kommen regelmäßig als Fressfeind in Frage, und auch Schreitvögel wie der Weißstorch oder der Graureiher fangen Blindschleichen, ebenso der Fasan. Gelegentliche Blindschleichen-Räuber sind zudem das Auerhuhn, die Elster und die Amsel. In ländlichen Siedlungen werden Blindschleichen nicht selten von Haushühnern gefressen. Unter den Säugetieren finden sich ebenfalls verschiedene Arten, die als Fressfeind in Frage kommen. Hierzu zählen vor allem Fuchs, Steinmarder, Iltis und Dachs. Das Wildschwein kommt vor allem in Waldgebieten als klassischer Feind in Frage. Im Siedlungsumfeld werden Hauskatzen zur großen Bedrohung für die Blindschleiche. Nicht zu vergessen ist die Schlingnatter, für die die Blindschleiche durchaus eine wichtige und regelmäßige Beute darstellt. Auch Ringelnatter und Kreuzotter konnten schon als Fressfeinde der Blindschleiche festgestellt werden. Für junge Blindschleichen können sogar Erdkröten oder große Laufkäfer eine Gefahr sein.

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Unter anderem zählen Schreitvögel wie der Weißstorch, Füchse und Schlingnattern zu den Fressfeinden, Fotos: D. Schmidt, R. Podloucky, B. Trapp

Überwinterung/Winterquartiere

Baumwurzeln können als Winterquartier dienen, Foto: B. Trapp

Baumwurzeln können als Winterquartier dienen, Foto: B. Trapp

Die Blindschleiche sucht in der Regel Mitte Oktober/Anfang November ihr Winterquartier auf, welches in bis zu 1 m Tiefe liegen kann. Hierbei handelt es sich um frostfreie, trockene, aber luftfeuchte Verstecke wie Erdlöcher, Kleinsäugerbaue, Wurzelhöhlen oder hohle Stämme. Geeignete Winterquartiere finden sich oft auch in oder unter Moospolstern und in Felsspalten, Trockenmauern, unter Steinen sowie im Schotterkörper von Straßen- oder Bahnböschungen. Regelmäßig sind überwinternde Blindschleichen zudem in Komposthaufen zu finden. Häufig bohren sie sich in geeignetem, lockerem Untergrund auch selbst kurze Gänge. Nicht selten überwintern Blindschleichen auch zu mehreren im selben Versteck. So sind Ansammlungen von 5–30 Tieren keine Seltenheit. Sogar Massenquartiere mit über 100 überwinternden Blindschleichen sind bekannt. Oft finden sich auch andere Reptilien – sogar Kreuzottern und Schlingnattern – und Amphibien wie Erdkröten oder Feuersalamander im selben Versteck. Günstige Winterquartiere werden häufig über Jahre regelmäßig von den Tieren aufgesucht.

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