Europäische Sumpfschildkröte
Artensteckbrief Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis)
Art:
Emys orbicularis, Europäische Sumpfschildkröte
Heimische Unterart(en):
Pontische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis orbicularis (Unterlinie 2)
Fauna-Flora Habitatrichtlinie:
FFH-Richtlinie (Anhang II und IV)
Rote Liste Status:
RL Deutschland (2009): vom Aussterben bedroht
RL BB (2004): vom Aussterben bedroht
RL BE (2004): ausgestorben
RL BW (1999): vom Aussterben bedroht
RL BY (2003): vom Aussterben bedroht
RL HE (2010): vom Aussterben bedroht
RL HH (2004): ausgestorben
RL MV (1992): vom Aussterben bedroht
RL NI (1994): ausgestorben
RL SH (2003): ausgestorben
RL SN (1999): ausgestorben
RL ST (2004): ausgestorben
Beschreibung:
Als einzige heimische Schildkröte und Vertreter der Halsberger erreicht die Pontische Sumpfschildkröte (Unterart: Emys orbicularis orbicularis) eine Panzerlänge von bis über 20 cm. Die Weibchen, deren Iris gelblich bis grünlich ist, werden größer als die Männchen (meist unter 15 cm), die eine rotbraune bis rote Iris besitzen. Ihr ovaler relativ flacher Rückenpanzer (Carapax) ist dunkel, braun-schwarz gefärbt und weist eine feine gelbliche Strich- und Punktzeichnung auf. Die Färbung des Bauchpanzers (Plastron) ist variabel und kann von einem gelb bis hin zu einem dunkel schwarz reichen. Die Halspartie und die Gliedmaßen sind ebenfalls dunkel braun-schwarz gefärbt und zeigen eine feine gelbliche Strich- und Punktzeichnung. Ihr Schwanz ist lang und dünn und kann als Unterscheidungs-merkmal gegenüber den bundesweit häufig ausgesetzten Schmuckschildkröten herangezogen werden. In Anpassung an ihre aquatische Lebensweise besitzen Sumpfschildkröten ausgeprägte Schwimmhäute an allen Gliedmaßen.
Gesamtverbreitung:
Die Sumpfschildkröte besiedelt ein ausgedehntes westpaläarktisches Areal, welches von Marokko im Südwesten bis zum Aralsee im Osten reicht. Nördlich dringt die Art entlang einer Linie von Zentralfrankreich, Norditalien, Niederöster-reich, der Slowakei bis nach Litauen und Russland auf Höhe von Moskau vor. In weiten Teilen Deutschlands, der Benelux-Länder, der Schweiz, Österreichs und Tschechiens kam es zu Verschleppungen und Hybridisierungen von Individuen unterschiedlichsten Ursprungs. Östlich der Elbe in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern konnten sich wenige zweifelsfrei autochthone Restbestände halten.
Verbreitung national:
Westlich der Elbe handelt es sich vermutlich ausnahmslos um eingeschleppte Einzeltiere oder Populationen, die aus Hybridisierung verschiedener genetischer Linien hervorgingen. Die Herkunft zahlreicher Populationen ist kaum mehr exakt zu rekonstruieren, da die Europäische Sumpfschildkröte Ende des 19. Jahrhunderts in großen Stückzahlen als Fastenspeise und auch in neuerer Zeit für Ansiedlungen in Gartenteichen gefangen und vermarktet wurde und wird. Einzig bei den Vorkommen der Art in Brandenburg in der seenreichen Uckermark und Mecklenburg-Vorpommern ist von eindeutig autochthonen Beständen auszugehen.
Hier finden Sie den Verbreitungsatlas für alle einheimischen Reptilien und Amphibien.
Lebensräume:
In Deutschland werden in erster Linie stark verkrautete, stehende oder nur sehr langsam fließende Gewässer mit schlammigem Bodengrund besiedelt. Abweichend von postglazialen Habitaten liegen diese Seen- und Bruchlandschaften heutzutage in Laubwäldern oder Kieferngebieten. Teilweise wird auch Brackwasser besiedelt, saure Moorgewässer oder klare Gewässer mit sandigem oder steinigem Grund werden hingegen nicht besiedelt. Charakteristisch für alle Wohn-gewässer sind ausgedehnte leicht erwärmbare flache Stillwasserzonen mit zahlreichem Totholz. Von entscheidender Bedeutung für ein langfristiges Überleben der Vorkommen ist zudem die Verfügbarkeit an geeigneten Eiablageplätzen. Dazu zählten in früherer Zeit vor allem Trockenrasen, sonnenexponierte Endmoränen und Sanddünen zu denen die trächtigen Weibchen oft weit anwanderten. Diese sind in der heutigen intensiv genutzten Agrarlandschaft nur noch sehr selten vorhanden.
Wissenswertes:
Die Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) ist die einzige heimische Reptilienart von der eine temperaturabhängige Geschlechtsdetermination bekannt ist (d.h. deren Geschlecht ihrer Nachkommen von der Inkubationstemperatur bestimmt wird). Dank umfangreicher Untersuchungen liegen für die Art eine Vielzahl von Daten zur Reproduktion vor. Unter Laborbedingungen entwickeln sich bei Inkubationstemperaturen unter 28 °C überwiegend Männchen, bei Temperaturen über 29,5 °C überwiegend Weibchen, das heißt nur in einem schmalen Bereich zwischen 28,0 und 29,5 °C ist ein ausgeglichenes Geschlechter-verhältnis der Schlüpflinge gewährleistet. Im Freiland würde dies bedeuten, dass es bei einem Temperaturanstieg während der sensiblen Phase der Inkubation (bei der Art für Brandenburg: 14. Mai bis 5. Juli), zu einer Reduzierung männlicher Phänotypen kommen könnte. Ander-erseits geht man davon aus, dass die Temperaturen selbst oberflächennah in den Nestern der Nordrand-Populationen in der Regel nicht für die Ausbildung von Weibchen ausreichen dürften und somit auch eine fakultative genetische Geschlechtsdetermination in den Brandenburger-Populationen existieren könnte. Auch ohne letztendlich zu wissen, ob eine temperaturabhängige Geschlechtsdetermination in den Brandenburger Populationen wirklich im Freiland existiert, so bleibt die Frage sehr spannend inwieweit Reptilien allgemein negative Einflüsse von Temperaturveränderungen (z.B. in Folge des Klimawandels) auf das Geschlechtsverhältnis ihrer Nachkommen kompensieren können. Theoretisch wären eine veränderte Mikrohabitatwahl des Gelegeplatzes (Ort oder Tiefe) ebenso wie mikroevolutive Anpassungen denkbar. Neueste Feldstudien an der Zierschildkröte (Chrysemys picta) weisen jedoch darauf hin, dass die Arten nicht mit der Geschwindigkeit der sich ändernden Klimabedingungen standhalten können.
Gefährdung & Schutz:
Die Bestände der Europäische Sumpfschildkröte haben in kürzester Zeit massiv abgenommen und sind hochgradig bedroht. So verwundert es nicht, dass die Art ausnahmslos in allen Roten Listen der Bundesländer als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft wird und in den Anhängen der FFH-Richtlinie gleich in zwei Anhängen (Anhang II und IV) vertreten ist. Ohne spezielle Schutzmaßnahmen, die in den letzten Jahren vor allem in Norddeutschland ergriffen wurden, wäre die Art vermutlich schon ausgestorben oder würde in absehbarer Zeit aussterben.
Waren es Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die intensive Nutzung der Schildkröte als Fastenspeise sowie die Trocken-legung zahlreicher Feuchtgebiete, so ist die Art auch weiterhin durch Lebensraumverluste gefährdet. Teilweise existieren noch heute Vorkommen in Söllen inmitten intensiv genutzter Agrargebiete als Relikte einer früheren Bewirtschaftungsform. Speziell für diese Vorkommen ist es von essentieller Bedeutung Eiablageplätze in der weiteren Umgebung zu schaffen. Beispiele aus Nachbarländern (Frankreich, Polen) zeigen, dass Bestände der Europäischen Sumpfschildkröte von einer extensiv betriebenen Land- und Teichwirtschaft durchaus profitieren können, solange noch recht gute Populationen an Amphibien und Wassermollusken als Nahrung dienen. Als weitere Gefährdungsfaktoren sind der Straßenverkehr, der Einsatz von Fischreusen, die Prädation adulter Schildkröten und ihrer Gelege durch eingeschleppte Waschbären sowie ein Absammeln für den Tierhandel zu betrachten. Zudem ist die heimische Unterart (ähnlich wie die Unterart P. m. brogniardii bei der Mauereidechse) durch die Einschleppung importierter mediterraner Sumpfschildkröten und anschließenden Hybridisierungen bedroht. Seit langer Zeit bemüht sich die Naturschutzstation Rhinluch/Linum des Landesumweltamts Brandenburg um den Erhalt und die Stützung der autochthonen Restbestände der Pontischen Sumpfschildkröte und bittet um die Mitteilung von Beobachtungen sowie Lebend- und Totfunden:
Norbert Schneeweiß, Naturschutzstation Rhinluch (Amphibien/Reptilien/Fische)
Nauener Str. 68, 16833 Linum, Tel.: +49 33922/ 902 55, Fax: +49 33922/ 902 54
E-Mail: Norbert.Schneeweiss@LUGV.Brandenburg.de
Informationen zum Artenschutz-Projekt
Literatur:
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Text: Ulrich Schulte
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